Welke Blätter.

Novellette von Paul Bliß.
in: „Stralsundische Zeitung, Sonntagsbeilage” vom 03.11.1895
in: „Badische Presse”, Karlsruher Unterhaltungs-Blatt vom 14.11.1895


Anfang Oktober. Die Sonne schien noch warm, Mittags brannte sie sogar noch heiß, sowie sie aber untergegangen war, wehte ein kühler Wind, der mit zahllosen welken Blättern sein tolles Spiel trieb und sie im bunten Reigen weit umherwirbelte.

Frau Melanie, die Witwe des vor drei Jahren verstorbenen Kommerzienraths Wallbaum, saß auf der Veranda ihres Sommerhäuschens und sah mit leiser Wehmuth dem Tanz der gelben Blätter zu; die Stickerei, an der sie so lange gearbeitet hatte, war ihr in den Schooß gefallen, und nun blickte Frau Melanie nachdenklich in die helle durchsichtig blaue Herbstluft und dachte an die Zukunft und baute Luftschlösser.

„Tantchen! Tantchen!” klang es da vom Park her.

Frau Melanie fuhr aus ihren Träumen auf. „Na, was giebt es denn wieder?” fragte sie mit leichtem Unwillen über die Störung.

Lächelnd und mit erhobenen Händen trat Lotte, die Nichte der Witwe, näher: „Ja, weißt Du denn, was ich habe! Ein Telegramm habe ich!”

„Ach, gewiß von Karl,” rief Frau Melanie und griff danach. Mit einemmal war sie wie umgewandelt, erregt und voll herzlicher Freude, und zitternd riß sie das Papier auf und überflog die paar Zeilen. „Er kommt! in einer Stunde kommt er schon!” jubelte sie und war ganz roth im Gesicht vor Aufregung, so daß Lotte erstaunt sie ansah.

Nun begann ein neues Leben in dem Sommerhäuschen.

Die Gastzimmer wurden in Ordnung gebracht, in der Küche wurde gebacken und gebraten, aus dem Keller wurden die besten Weine heraufgeholt, und was man an Blumen und Grün noch fand, wurde abgeschnitten und zu Kränzen und Guirlanden gewunden.

Mit gespannter Aufmerksamkeit übersah Frau Melanie Alles, bald war sie hier, bald dort, ordnete an und verbesserte, und hatte für Alles einen offenen Blick und konnte sich nicht genug thun, um den Empfang des Gastes so festlich als möglich zu gestalten.

Lotte sah ihr schweigend zu. So hatte sie die Tante ja noch nie gesehen! Sie fand keine Erklärung dafür, mochte aber auch nicht danach fragen.

Endlich aber fing Minna, die alte Magd, an zu sprechen; auch sie hatte sich lange im Stillen über die Erregtheit der gnädigen Frau gewundert, nun ertrug sie es nicht länger, nun machte sich die Wißbegierde Luft.

„Fräulein Lotte,” begann sie, „ich glaube — aber nein, fast möchte ich es gar nicht sagen.”

„Na, was denn, Minna?” fragte Lotte, indem sie emsig an dem grünen Kranz wickelte und wand.

„Ich glaube, Fräulein Lotte, unsere gnädige Frau wird noch mal heirathen.”

Lotte sah erstaunt auf.

„Ja, ich glaube es, Fräulein,” sagte die alte Dienerin, „und der alte Johann hat es auch gemeint.”

„Aber wie kommen Sie denn nur darauf, Minna?”

„Du lieber Gott, ich bin nun schon zwölf Jahre hier im Hause, und da weiß man nachgerade, — — — nämlich der Herr Karl walter, der jetzt kommen soll — — —,” sie zögerte.

„Nun, was ist mit ihm?” fragte Lotte begierig.

„Der wird es wohl werden.”

„Aber Minna!”

„Wenn ich Ihnen sage, Fräulein, der wird es! passen Sie auf, daß ich recht habe!”

Beide schwiegen, da die gnädige Frau kam und zur Eile antrieb. Dann nahm sie Lotte mit ins Eßzimmer, wo gedeckt werden sollte.

Lotte dachte noch immer an die Worte der alten Minna, und so unglaublich ihr die Neuigkeit auch zuerst vorgekommen war, nach und nach war sie schon mehr geneigt, doch daran ernsthafter zu denken, und die Aufregung der Tante sprach auch nur noch mehr dafür, daß die alte Dienerin recht haben konnte.

Während sie den Tisch deckte, dachte sie noch immer daran. Es fiel ihr ein, daß die Tante schon Tausende geopfert hatte, um die Ausbildung des jungen Malers Karl Walter zu ermöglichen, daß sie ihm die Mittel gegeben, mit denen er seine großen Kunstreisen zur Vollendung seiner Studien machen konnte, und unwillkürlich dachte sie jetzt, daß die Tante bei alledem auch eine Absicht gehabt haben konnte; — sie war Wittwe, war reich und unabhängig, jung und lebensfroh war sie auch noch, und er war jetzt ein berühmter Mann; also unmöglich war es ja nicht, daß diese Freundschaft mit einer Heirath enden konnte, wie die alte Minna so genau wissen wollte.

Aber zu längerem Nachdenken blieb ihr keine Zeit, denn nach wenigen Minuten kam die Tante schon wieder, die noch neue Arbeit für sie hatte. —

Eine Stunde später kam Karl Walter an.

Frau Melanie begrüßte ihn wie einen alten Freund und führte ihn stolz am Arm durch all die Blumen und Bandgewinde.

„Aber meine verehrte gnädige Frau,” sagte er. „Sie bereiten mir ja einen Empfang, als sei ich ein Landesfürst.”

„Oh” antwortete sie lächelnd, „wir wissen, was wir einem so berühmten und gefeierten Künstler schuldig sind.”

Mit herzlicher Freude dankte er für Alles. Dann begrüßte er die alte Minna und den Johann und schließlich stand er vor Lotte.

„Fräulein Lotte Bergemann,” stellte Frau Melanie vor, „meine Nichte, eine Waise, der ich die Heimath ersetzen will.”

Lotte knixte, als er ihr die Hand gab und sie ansah, und sie fühlte, daß sie roth wurde. — — —

Als sie später bei Tisch saßen, war Lottes Platz dem Gast gegenüber. Die Tante saß neben ihm. Er sprach viel von seinen Reisen und Abenteuern, erklärte seine neuen Pläne über Bilder und Ausstellungen, und war bei bester laune; aber wennschon er fast immer nur zur Tante gewendet sprach, Lotte merkte es doch, daß er in jedem freien Augenblick den Blick auf sie richtete.

Nach dem Essen sprach er zum erstenmal ausschließlich mit ihr. Die Tante war ein paar Minuten abgerufen, und so waren sie beide allein. Er sprach von ganz gleichgültigen Dingen, aber unausgesetzt sah er sie an dabei, und so tief und prüfend, als wolle er im Grunde ihrer Seele lesen.

Zuerst war sie befangen und verlegen, schließlich aber wurde sie tapfer, und antwortete frei und offen mit Scherz und Humor, und endlich hielt sie auch seinen Blick aus — nach fünf Minuten fühlten beide, daß sie gute Freunde werden würden.

Und so kam's denn auch. Nach acht Tagen waren sie bereits so bekannt, als seien sie die ältesten Freunde. Er begleitete sie auf ihren Spaziergängen, dann wieder führte er sie in sein Atelier, das Frau Melanie ihm eingerichtet hatte, dort erklärte er ihr die Ideen zu seinen Bildern und er sprach mit ihr über andre Kunstwerke der Neuzeit.

Frau Melanie merkte sehr gut, daß Karl sich für den kleinen Blondkopf interessierte, dabei aber fand sie nichts, das ihr gefährlich schien, denn seine größte Aufmerksamkeit galt doch allein nur ihr — sie war die erste, zu der er kam, wenn er Rath brauchte, sie war es, die er in allen Dingen als Vertraute wählte, ihr allein galt sein größtes interesse; das, was er für die Lotte empfand, war Höflichkeit und Freundschaft, weiter nichts. Damit tröstete sie sich. Und dieser Trost war ihre Rettung, ihre Hoffnung, ihr Alles. Denn darüber war sie sich nun längst klar, daß sie diesen Mann liebte, und daß sie nur darauf wartete, bis er kommen und sie zur Frau begehren würde. Das war das Endziel all ihrer Gedanken. —

Der Oktober ging zu Ende. Das Weinlaub an der Veranda wurde gelb und braunrot, die Nächte waren kalt und neblig, und endlich begannen die Regentage.

Frau Melanie gab ihren ersten Ball in der neuen Saison. Ein Fest zu Ehren des berühmten Malers, ihres lieben Gastes.

Glänzendes Leben fluthete durch die lichterhellten Räume des Hauses, eine große Gesellschaft vornehmer Leute war erschienen, Damen in prächtigen Toiletten und funkelnden Brillanten und Herren mit ordengeschmückter Brust.

Kächelnd machte die Herrin die Runde, ihre Gäste zu grüßen, sie hatte eine prachtglänzende Robe angezogen und in dem reichen Schmuck sah sie jugendlich begehrenswerth aus. Ihr Begleiter war natürlich Karl Walter, an dessen Arm sie von Zimmer zu Zimmer ging, allenthalben grüßend und scherzend; sie war überglücklich, denn sie fühlte, daß bald die Entscheidung da sein werde.

Als sie in den Wintergarten traten, bemerkte er Lotte, die hinter einer Palme stand, er sah, wie die Kleine zitterte und ängstlich auf ihn schaute, da nickte er ihr zu, mit einem Blick nur, in diesem einen Blick aber lag so viel Hoffnung, so viele Versprechungen, daß sie beruhigt aufathmete und voll inniger Dankbarkeit nur stumm nickte.

Das ganze Vorkommniß dauerte nur eine Minbute, keiner hatte es bemerkt, nur allein Frau Melanie; sie aber hatte es mit Schaudern bemerkt, denn nun mit einemmal fiel es wie Schuppen von ihren Augen, nun wußte sie, was ihr bevorstand.

Bald darauf verschwand Frau Melanie für einige Minuten. Sie lief in ihr Zimmer, schloß hinter sich ab und sank weinend in einen Fauteuil — — — Nun war Alles aus, nun stürzte das ganze Gebäude ihrer Hoffnungen zusammen. Ach, sie haßte die Lotte jetzt, die ihr das Glück stahl, und sie haßte auch ihn, der sie betrogen. — Alles haßte sie, was jung war, denn sie selbst, — das fühlte sie jetzt zu deutlich — sie war innerlich nicht mehr jung. Und so lief sie nun an den Spiegel, und der zeigte ihr ein Gesicht, das von Gram und Aerger verzerrt und entstellt war, und in dem sich, trotz aller Kosmetika, doch die kleinen Runzeln und Krähenfüßchen bemerkbar machten, — enttäuscht ließ sie sich in den Fauteuil zurückfallen , — sie wurde alt, nun war nichts mehr zu hoffen. — — — Lange saß sie und sah hinaus in die mondhelle Herbstnacht, — noch immer fielen die welken Blätter in endlosen Mengen und noch immer trieb sie der Wind umher zum bunten Reigen. — — — Nun war es vorbei. — Jetzt nur keine Niederlage zeigen! Dann raffte sie sich auf, verwischte die Spuren der Thränen und Erregung, und dann zurück zu den Gästen.

Inzwischen war Karl zur Lotte gegangen. Er fand sie noch auf derselben Stelle. Als sie ihn kommen sah, lief sie ihm entgegen und war voll inniger Freude.

„Aber was hatten Sie denn, Fräulein Lotte?” fragte er und nahm ihren Arm.

Lotte wurde roth und schwieg. Endlich, da er noch einmal bittend fragte, antwortete sie leise: „Aber lachen Sie nicht!”

„Gewiß nicht,” versicherte er.

„Nun denn,” sprach sie weiter, „ich glaubte, daß es wahr sei, was die Leute hier im Hause sich erzählen, daß Tante und Sie —” sie zögerte.

„Wir Beide ein Paar —,” er lachte laut auf, „nein, Lotte, das ist ein Gerede der Leute, nicht mehr, — damit Du aber nicht noch einmal so in Angst kommst, — schnell, gieb mir den Verlobungskuß — ja?” Jubelnd sah er sie an, und da sie nicht widersprach, nahm er sie in seine Arme, drückte sie an seine Brust und küßte sie lange und innig.

Fünf Minuten später stand das Paar vor Frau Melanie und Karl begann: „Theure Freundin, Sie sind die edelste und selbstloseste Freundin, der ich Alles verdanke, was ich bin, machen Sie mich nun auch zum glücklichsten Menschen und geben Sie mir Ihre Nichte zur Frau.” Frau Melanie bebte vor Erregung, aber sie hatte Gewalt über sich und ließ es nicht merken, mit lächelndem Gesicht sagte sie, daß sie auf diese Neuigkeit längst gefaßt war, und gab mit Freuden ihre Einwilligung.

Weitere fünf Minuten später wußte es die ganze Gesellschaft und dann feierte man die Ueberraschung.

Frau Melanie aber sah wieder hinaus in die nächtliche Herbstlandschaft und ein paar alte Verse kamen ihr in den Sinn:

Welke, windverwehte Blätter,
Boten naher Winterruh,
Fallet sacht! — ihr deckt die Gräber
Mancher todten Hoffnung zu.

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